Willkommen im Post-Cyberpunk

„Alte Menschen interessieren sich nicht für das Internet!“

Das ist eine der beschränktesten Aussagen überhaupt. Genauso kann man sagen „Junge Menschen interessieren sich nicht für das Fernsehen.“ Ohne Fernsehen gäbe es keine Game of Thrones-TV-Serie. Klar, die meisten hier gucken die im Netz, aber gemacht war sie für das Fernsehen. Dexter… die Simpsons, Jimmy Kimmel… überhaupt, das ganze Material für Memes… der Großteil stammt aus der TV- und Kinolandschaft. Wir interessieren uns für das Medium Fernsehen, denn es hat Inhalte, die uns interessieren (für mich zum Beispiel in der Woche von 18.30-20.15 das Programm von 3sat…). Und genau so gibt es für die Älteren im Netz Inhalte, die sie interessieren.

Die (vergessenen) Wunder des Internet

Nur ein paar Beispiele, was alles selbstverständlich im Internet möglich ist, und zu dem viele mangels Wissen oder Erfahrung noch keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben.

  • Weitere Informationen zu Sendungen im TV: Nach fast jeder Sendung kommt der Hinweis „weitere Informationen finden Sie auf unserer Webseite“….
  • Recherche über Gesundheitsthemen. Ist die neue Behandlungsweise für dieses oder jene Altersgebrechen wirklich so risikolos? Was sagen die Watchblogs zu den neuen Mitteln der Pharmaindustrie?
  • Videos und Beiträge von fanatischen Modellbahnbauern. Generell findet sich zu fast jedem Hobby und Handwerk lehrreiches und unterhaltsames Material.
  • Foren für Sammler aller Art, von Schmetterlingen, Briefmarken, Militaria oder ausgedienten Flugzeugteilen….
  • E-Mail-Kontakt mit den Verwandten im Ausland, dazu Videochat, Chats und vieles mehr.
  • Videotelefonate mit dem anderen Ende der Welt.

Vergesst nicht, dass das, was für uns einst vor Jahren noch Wunder war und inzwischen selbstverständlich ist, für Ältere oft noch immer unbekannt oder befremdlich ist. Nehmt sie bei der Hand, zeigt es ihnen, erklärt ihnen wie ihr euch im Netz bewegt, hört ihren Fragen zu! Überlegt, wie sie es verstehen können, helft ihnen mit Erklärungen, Metaphern und übersetzt die notwendigen und manchmal auch überflüssigen englischen bzw. denglischen Begriffe. Erläutert, was Viren anrichten können und was nicht, und versucht ein Gefühl für Sicherheit zu vermitteln (inzwischen benötigen ja selbst Smartphones Virenscanner, kein Android-Gerät ohne, ist das klar?)
Klärt sie über Nutzen und Risiken auf, soweit ihr es wisst. Im Zweifel recherchiert selbst nochmal, ihr könnt das! Und dann gebt eure Erkenntnisse weiter. Aber hört auch zu.
Sie haben den Vorteil der umfangreicheren Lebenserfahrung. Auch wenn es anders scheint, oft wissen sie noch immer etwas mehr darüber, wie die Welt sich dreht. Tragt euer Wissen und Verständnis zusammen. Womöglich ergeben sich sogar für euch selbst neue Erkenntnisse durch andere Blickwinkel.

 

An diesem Punkt übrigens ein großes Lob an die Kryptographie-Bewegung der Piraten. Die Aktion, netzunerfahrenen Leuten zu zeigen, wie sie ihre E-Mails und sonstige netzbasierte Kommunikation gegen Abhörvorgänge absichern können, ist überaus löblich. Nur wenn der Veranstaltungsort, ein Vereinsheim, als Hackerspace bezeichnet wird… wen will ihr damit locken? Merkt ihr was?

Ich nehme mich bei dieser Kritik selbst gar nicht aus. Selbst habe ich einige Jahre beobachtet wie meine Eltern und andere ältere Personen Mühe hatten, den netzbedingten Schwerpunktthemen zu folgen, oder gar nicht begriffen, wie ich den letzten Tatort in der Mediathek abrufen konnte, oder gar Kabarettauftritte bei Youtube in Sekunden finden ließen. Blogs, Das Mitmach-Web, Wikipedia, Watchblogs, Videoblogs, Onlinetutorials, Musikstreaming und ja, auch die als Datensammler verhassten sozialen Netzwerke; all diese Dienste bieten für Menschen ALLER Altersklassen viel Potenzial. Was fehlt sind die Lotsen und Lehrer. Wir selbst lernten per trial&error. Aber nun können wir die Lotsenrolle übernehmen.

Und dazu muss man kein Informatiker sein. Ich mag vielleicht einen Heimvorteil durch meine Ausbildung und Studium haben. Aber jeder von uns bewegt sich in einigen Gefilden des Internets halbwegs sicher. Diese Sicherheit muss weitergegeben werden, ein digitaler Generationenvertrag. Denn irgendwann werden auch wir nicht mehr in der Lage sein Neuerungen in dem bisherigen Tempo aufzunehmen, und das Tempo zieht stetig an. Dann werden wir selbst auf die nächste Generation angewiesen sein, dass sie uns bei der Hand nimmt und führt.

Oder glaubt jemand, die Politik wird hierzulande oder gar weltweit das Thema digitalen Datenschutz, Sicherheit im Internet etc. allsbald in den Griff kriegen? Bringt euer Wissen der älteren Generation näher, sonst wird es niemand tun. Gewiss, nicht jeder hat das gleiche Interesse oder die gleiche Lernbegeisterung. Ich betreue selbst drei ältere Personen regelmäßig und jeder von ihnen nutzt das Netz gänzlich anders und hat eine ganz andere Lernbereitschaft. Einiges muss ich manchmal fast jedes Mal wiederholen, doch selbst im schlimmsten Fall tritt im Laufe der Zeit ein Lerneffekt ein, aber vor allem: Sie fühlen sich nicht allein gelassen!

Anderen auf dem Weg zu eigener Netz-Mündigkeit helfen

Es tut nichts zur Sache ob ihr gut erklären könnt oder ob euer älterer Herr gar nicht wissen will wie Youtube arbeitet, sondern nur eben dieses eine Video finden will. Zeigt es ihm, erklärt ihm was er wissen will und versucht euch in seine Denkweise hineinzuversetzen. Was kann schlimmstenfalls passieren?
Im Schlimmstfall verliert euer ‚Schüler‘ das Interesse am Internet. Aber das war ihm vorher eh schon suspekt. Ihr habt also keinen Schaden angerichtet. Aber ihr habt Zeit mit euren Eltern verbracht! Und allein das ist heute schon viel wert.
Ich hoffe langsam wird klar, worauf ich hinaus will.

Ich träume nicht davon, dass plötzlich jeder zum Crack wird und nur noch L33t spricht. Ehrlich gesagt muss man auch nicht jeden Internettrend mitnehmen. Doch wir sollten jedem die faire Möglichkeit geben, das Netz zu erkunden und für sich selbst zu entdecken. Niemandem muss es gefallen, aber jeder soll einen möglichen Zugang haben. Und dazu reicht nicht ein DSL-Anschluss und ein Notebook. Der Anschluss muss laufen und man muss mit dem System vertraut sein. Dafür gibt es aber keine Patenthandbücher, dies können nur erfahrene Nutzer sein, die zeigen wie es geht. Und wer weiß, vielleicht gibt’s zu Haus bei den Eltern oder wem man sonst hilft, ja auch mal ’n Stück Kuchen oder zur Not ’n Scotch wenn die Nerven bei der Hilfestellung doch zu sehr belastet worden sind.

Krümelmonster und die Cookies - von FernandezAlso, rafft euch auf, wütet nicht tatenlos gegen den Abhörskandal. Je mehr gewütet wird, desto eher wird der Rauch ohne Folgen verfliegen, denn unsere Politiker wissen heute ganz genau, Wutbürger kochen am Ende auch nur mit Wasser. Mit Pech wird die Debatte gänzlich folgenlos bleiben. Es muss etwas passieren, nicht erst nach einer Diskussion, nicht erst jetzt, sondern am besten schon gestern vor 10 Jahren. Für unsere Elterngeneration muss es nicht folgenlos bleiben. Vielleicht schütteln sie in ein paar Monaten ja selbst lachend den Kopf, wenn wieder ein Politiker vom obskuren Neuland spricht. Es liegt in unserer Hand.

 

PS: Wer sich daran stört, dass ich dieses Mal bewußt auf zu viele denglische Netzbegriffe verzichtet habe, oder sie gezwungen eingedeutscht habe: Es hilft den Älteren, wenn man ihre Sprache spricht. In der Ära Kohl und früher war man Browser, Brownies, Cookies und Cupcakes hierzulande noch nicht sehr vertraut.

PPS: Eine der von mir betreuten Personen surft jetzt seit 3 Jahren im Netz, zuerst mit einem Mobilfunkvertrag per UMTS-Modem, jetzt mit vernünftigen DSL, aber weiterhin auf einem uralten Asus 901 Netbook, auf dessen Bildschirm kaum eine Webseite ohne Scrollen passt. Und doch ist das Produktivniveau dieser Person was das Internet angeht, inzwischen größer als das, was so mancher mit einem Computer für den zehnfachen Wert schafft. Zudem hat sich die Person an den sicheren Umgang mit Ubuntu als täglicher Windows-Alternative hervorragend gewöhnt und ist auch in der Lage, sich in anderen Betriebssystemen oder Browsern ausreichend zurechtzufinden, um nun selbst rudimentäre Hilfestellungen zu geben.


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